Die Gemeindereform im Raum Nienburg

Vor der Gemeindereform 1974 in Niedersachsen hatten über 2.000 von insgesamt 4.200 Gemeinden weniger als 500 Einwohner. Diese "Kleinstgemeinden" waren Anfang der 60er Jahre nicht mehr in der Lage, die ihnen laut Gemeindeordnung zugewiesenen Aufgaben auszuführen, da ihnen die nötigen Gelder fehlten. Allzu oft mussten die Landkreise einzelne ihrer Aufgaben übernehmen, so dass die Gemeinden in eine immer größer werdende Abhängigkeit von den Kreisen gerieten. Um dieses zu unterbinden und die Selbständigkeit und Entscheidungsfreiheit der Gemeinden wieder herzustellen, war es notwendig geworden, einwohner- und leistungsschwache Gemeinden zu größeren Einheiten nicht un-ter 5.000 Einwohner zusammenzufassen. 1965 wurde von der niedersächsischen Landesregierung eine Sachverständigenkommission zu diesem Thema einberufen. Sie erarbeitete die Grundlagen für die Verbesserung der Verwaltungsstruktur und bereitete eine umfassende Gebietsreform für Niedersachsen vor.

 

Wie groß soll die Stadt Nienburg werden?

Der erste Vorschlag zu einer Gemeindereform sah vor, dass die zukünftige Stadt Nienburg aus den bis dahin selbständigen Gemeinden Erichshagen (Flecken), Holtorf, Langendamm, Sonnenborstel, Stöckse, Steimbke, Wenden, Wendenborstel, Linsburg, Schessinghausen, Groß Varlingen, Husum und Bolsehle - also dem gesamten Ostteil des Landkreises - gebildet werden sollte. Nienburg hätte dann ca. 37.700 Einwohner besessen. Während sich die weiter von Nienburg gelegenen Gemeinden noch keine allzu großen Sorgen um ihre Eigenständigkeit machten, befürchtete man in Erichshagen und Holtorf auf jeden Fall von Nienburg "geschluckt" zu werden. Aus diesem Grund trafen sich die Ratsmitglieder des Fleckens Erichshagen und der Gemeinde Holtorf unter ihren jeweiligen Bürgermeistern - Heinrich Westermann für Erichshagen und August Hüttmann für Holtorf - im März 1967, um über die Bildung einer Samtgemeinde Erichshagen-Holtorf zu beraten. Eine Woche nach dieser gemeinsamen Sitzung wurde jedoch der Vorschlag zur Bildung einer Samtgemeinde mit Holtorf vom Erichshagener Rat mit 8:5 Stimmen abgelehnt. Holtorf nahm dieses zur Kenntnis, beschloß aber trotzdem auch weiterhin für die Bildung einer Samtgemeinde mit Erichshagen bereit zu sein.

 

Holtorf als Teil der Samtgemeinde Heemsen?

Nach dieser Ablehnung von Seiten Erichshagens wandte sich der Holtorfer Rat im März 1968 seinen anderen Gemeindenachbarn zu. Er verhandelte über einen Beitritt zur Samtgemeinde Heemsen, die aus den Gemeinden Anderten, Drakenburg, Gadesbünden, Haßbergen, Heemsen und Rohrsen bestehen sollte. Anfang April 1968 beschloss der Rat der Gemeinde Holtorf einstimmig der Samtgemeinde Heemsen zum 1. Juli 1968 beizutreten, umso dem Zugriff Nienburgs zu entgehen. Anfangs sollte auch der Flecken Erichshagen dazu gehören, doch die Erichshagener Ratsherren bekundeten kein Interesse. Mitte August 1968 kam plötzlich das Aus für Holtorf als Mitglied der Samtgemeinde Heemsen, denn die niedersächsische Kommunalaufsichtsbehörde versagte die Genehmigung zum Beitritt Holtorfs zu Heemsen. Auch eine Klage aller Samtgemeindemitglieder vor dem Verwaltungsgericht Hannover änderte nichts an dieser Ablehnung. Daraufhin beschlossen die Holtorfer nochmals mit Erichshagen über die Bildung einer Samtgemeinde zu beraten.

 

Erichshagen und Holtorf als Einheitsgemeinde Wölpe?

Im Zuge des Baus einer gemeinsamen Realschule für Erichshagen und Holtorf 1969 berieten die Ratsherren ein zweites Mal über die Bildung einer Einheitsgemeinde. Beide Seiten beschlossen in einer gemeinsamen Sitzung, mit der jeweils andere Gemeinde solch eine Einheitsgemeinde bilden zu wollen, umso der Eingliederung nach Nienburg zu entgehen. Aus Erichshagener Sicht sollte die neue Gemeinde den Namen "Wölpe" tragen und die Gemeindeverwaltung in Erichshagen belassen werden. Im Februar 1970 trafen sich die Ratsmitglieder beider Orte erneut und diskutierten über die bevorstehende Bildung einer Einheitsgemeinde, jedoch hatten die Holtorfer in der Zwischenzeit ihre Meinung geändert und äußerten nun, dass die Maßnahmen zur Bildung einer Einheitsgemeinde Erichshagen-Holtorf nicht mehr erfolgversprechend seien.
Im gleichen Jahr wurde in Niedersachsen ein neuer Landtag gewählt, aus dem die SPD als Sieger hervorging. Sie kündigte an, dass die Neugliederung der Landkreise und Gemeinden die vordringlichste Aufgabe sei und bis zum Frühjahr 1974 beendet sein solle. Daraufhin gab das Innenministerium per Erlass vom November 1971 bekannt, dass sich die einzelnen Gemeinden bis zum 31. Januar 1971 zu den ausgearbeiteten Diskussionsvorschlag des Ministers zur Neugliederung der Gemeinden im Raum Nienburg äußern sollten. In diesem Papier schlug die Kommission die Eingliederung Erichshagens, Holtorfs und der Kattriede nach Nienburg vor.

 

Was wird aus Langendamm?

Bis Ende 1971 machte man sich in der Gemeinde Langendamm noch keine Sorgen um eine mögliche Eingliederung nach Nienburg, denn Langendamm wurde bis dahin als Teil der schon bestehenden Samtgemeinde "Im Wohlde" gesehen. Erst der Schnellbrief des niedersächsischen Innenministers zur Gebietsreform Ende November 1971 löste in Langendamm Verwunderung aus, denn darin wurde der Fortbestand der im Juli 1966 gegründeten Samtgemeinde "Im Wohlde" - bestehend aus den Gemeinden Langendamm, Schessighausen, Bolsehle, Groß Varlingen, Husum und Linsburg - in Frage gestellt und zum ersten Mal die Zuordnung Langendamms zur Stadt Nienburg vorgeschlagen. Ab diesem Zeitpunkt versuchte der Langendammer Rat der Eingemeindung zu entgehen und trat immer wieder beim niedersächsischen Innenministerium für den Fortbestand der Samtgemeine "Im Wohlde" ein. Den Höhepunkt bildete dabei eine repräsentative Umfrage unter den Langendammer Einwohnern, von denen sich 973 von 983 Befragten gegen die Zuordnung Langendamms zu Nienburg aussprachen, die restlichen 10 wollten sich weder für noch gegen eine Zuordnung entscheiden. Doch bereits im Schnellbrief des niedersächsischen Innenministers vom 31.10.1972 wurde die Auflösung der Samtgemeinde "Im Wohlde" bekannt gegeben. Die Gemeinde Linsburg würde der Verwaltungseinheit Steimbke, die anderen Gemeinden Bolsehle, Groß Varlingen, Husum und Schessinghau-sen der Verwaltungseinheit Landesbergen zugeordnet werden. Noch bis Anfang 1974 versuchte der Rat der Gemeinde Langendamm, einer Zuordnung zur Stadt Nienburg zu entgehen, doch ohne Erfolg.

 

Resignation in Erichshagen und Holtorf

Unterdessen hatten sich die Räte des Fleckens Erichshagen und der Gemeinde Holtorf mit ihrer Zuordnung zur Stadt Nienburg abgefunden, auch wenn sie immer wieder für die Erhaltung der Selbständigkeit ihrer Orte neue Gründe hervorbrachten. Als sich in dem Referentenentwurf des niedersächsischen Innenministers vom März 1973 an der Eingemeindung beider Gemeinden zur Stadt Nienburg nichts änderte, beschloss man in Holtorf Mitte März, diesem Entwurf zuzustimmen. Auch Erichshagen beugte sich der Situation und sprach sich dafür aus, einen Ortsrat einzurichten, um den bisherigen Kontakt zu den Bürgern zu erhalten. Holtorf schloss sich diesem Vorhaben Ende Mai an, trat aber für den Begriff "Ortschaft" statt "Ortsteil" von Nienburg ein. Im Herbst 1973, als der geplante Gesetzesentwurf der Neugliederung des Raumes Nienburg kurz vor der Zustimmung im Niedersächsischen Landtag und somit die Eingemeindung Erichshagens, Holtorfs und Langendamms kurz bevor stand, begannen die drei Räte mit den Verhandlungen mit der Stadt Nienburg über den Inhalt der im Rahmen der Gemeindereform abzuschließenden Gebietsänderungsverträge.

 

Abschluss der Gebietsänderungsverträge

Ende Januar 1974 lagen die einzelnen Gebietsänderungsverträge vor und die Bürgermeister und Gemeindedirektoren des Fleckens Erichshagens (Hoppe; Thies), der Gemeinden Holtorf (Hüttmann; Tinnemann) und Langendamm (Schlemermeyer; Helmich) kamen am 7. Februar 1974 im Nienburger Rathaus mit Bürgermeister Radtke und Stadtdirektor Intemann zusammen, um die Verträge zu unterzeichnen. Zu den letzten Ratssitzungen der drei zukünftigen Ortsteile kamen auch der Nienburger Bürgermeister und Stadtdirektor, um den einzelnen Ratsherren, Bürgermeistern und Gemeindedirektoren für ihre Arbeit zu danken. Ferner wurden jeweils 5 Mitglieder für den Interims-Rat der nun erweiterten Stadt Nienburg bestimmt, der solange existierte, bis am 9. Juli 1974 ein neuer Stadtrat gewählt wurde, indem auch Vertreter aller Ortsteile eingebunden waren.

 

Erichshagen, Langendamm und Holtorf bilden die drei größten Ortsteile der Stadt Nienburg

Am 1. März 1974 endete schließlich die Selbständigkeit der drei Orte Erichshagen, Holtorf und Langendamm mit dem Austausch der Gebietsänderungsverträge zwischen den dreien und der Stadt Nienburg. Bürgermeister Radtke und Stadtdirektor Intemann besuchten nacheinander die neuen Ortsteile. Während man in Erichshagen und Holtorf, letztere hatten in einer mitternächtlichen Feierstunde mit 3 Glockenschlägen dem Ende ihrer Eigenständigkeit gedacht, die Vertragsausfertigungen entgegen nahmen, erwartete die Gemeindeverwaltung Langendamm die Nienburger halbmast geflaggt, umso ihrer Sterbestunde Ausdruck zu verleihen. Die drei Orte und das Gebiet Schäferhof/Kattriede der Gemeinde Leeseringen bilden seitdem die vier Ortsteile der Stadt Nienburg. Um aber ein gewisses Eigenleben zu bewahren, wurden Ortsräte in Erichshagen, Holtorf und Langendamm eingerichtet, das Gebiet Schäferhof/Kattriede wird von einem Ortsvorsteher vertreten. Die bisherigen Bürgermeister der drei selbständigen Gemeinden wurden ab dem 1. März 1974 Ortsbürgermeister und standen dem Ortsrat vor, der ebenfalls bis zur Kommunalwahl aus den alten Gemeinderatsmitgliedern bestand.
Am 26. März 1974 tagte das erste Mal der Interims-Rat und der Nienburger Bürgermeister begrüßte zum ersten Mal auch Vertreter der neuen Ortsteile im Nienburger Ratssaal. Dieser Interims-Rat existierte bis zur Kommunalwahl am 9. Juni 1974 und bestand aus 51 Mitgliedern. Nach der Wahl schmolz der Nienburger Stadtrat dann wieder auf 39 Sitze zusammen.

Literatur: Marcus René Duensing: Der Kampf von Erichshagen, Holtorf und Langendamm gegen die Eingemeindung zur Stadt Nienburg/Weser 1967 bis 1974 - Die Auswirkungen der Gebiets- und Verwaltungsreform in Niedersachsen am Beispiel des Raumes Nienburg/Weser, Nienburg 2008, ISBN-Nr. 978-3-939667-01-8, 160 Seiten, Preis: 14,80 Euro